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Wiener Festwochen: Holocaustrelativierung am Judenplatz?

Leerer Schabbat-Tisch: Gedenkveranstaltung für die israelischen Hamas-Geiseln am Wiener Judenplatz
Leerer Schabbat-Tisch: Gedenkveranstaltung für die israelischen Hamas-Geiseln am Wiener Judenplatz (© Imago Images / SEPA.Media)

Der in Israel weitgehend unbekannte, aber in Deutschland gern gesehene deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm wird am 7. Mai, dem Vorabend des Jahrestags der Nazikapitulation, im Rahmen der Wiener Festwochen seine »Rede an Europa« halten.

Die Sorge des jüdischen Kronzeugen gilt dabei nicht weniger als der Einheit Europas, die er bedroht sieht, da Deutschland – und wohl auch Österreich – mit seiner aus der »Verantwortung für den Holocaust« abgeleiteten Solidarität mit Israel quasi einen »Judenknax« (Dieter Kunzelmann) wegen des Nationalsozialismus habe, der das Land uneingeschränkt an die Seite des jüdischen Staates stelle. Dem gegenüber stünden EU-Länder wie Frankreich, die in ihrem Selbstverständnis vom »kolonialen Erbe« geprägt seien, wodurch es dort dann so etwas wie einen fortschrittlichen Postkolonialismus gebe, der die Unterstützung der Palästinenser zur Folge habe.

Vergessen des Holocaust

Die These von der Singularität oder Präzedenzlosigkeit der Shoah würde dahingehend instrumentalisiert, Deutschlands universalistische Verpflichtungen zu untergraben, sich gegen Unrecht und Unterdrückung weltweit einzusetzen. Stattdessen würde (allein) Israel bedingungslos unterstützt und jede Kritik daran mundtot gemacht werden: »Wir sollten uns der Tendenz widersetzen, Israel als einen gleichsam der Kritik enthobenen Staat zu behandeln, der nicht auf herkömmlicher, legitim zu hinterfragender und zu diskutierender Politik beruht, sondern auf einem quasi sakralisierten Holocaust-Gedenken«, schreibt Boehm in seinem Buch Israel – eine Utopie.

Ein besonderes Problem hat Boehm auch mit der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, weil der dort angeblich betriebene »Holocaust-Messianismus« den jüdischen Staat der Sphäre rationaler, universalistischer Politik enthebe, die er einklagt. Sein wichtigstes Thema ist nicht der Holocaust, sondern die »Nakba«, wobei ihn die »jüdische Nakba«, die Unterdrückung und Vertreibung der Juden aus islamischen Ländern, nicht weiter interessiert. Vielmehr geht es ihm um die palästinensische »Nakba« und damit um nicht weniger als um die Gründung des jüdischen Staates, den Boehm ablehnt.

Boehm will das, wie er sagt, »quasi sakralisierte Holocaust-Gedenken« auslöschen. Der Holocaust müsse »mit der Wurzel ausgerissen«, der »angstbasierte mythologische Holocaust-Messianismus« entsorgt werden. In diesem Zusammenhang spricht Boehm gerne von der »politischen Kunst des Vergessens« und will den Holocaust auf eine Stufe gestellt sehen mit einer von ihm behaupteten Katastrophe (»Nakba«), welche die Juden 1948 angeblich über die Araber Palästinas gebracht hätten. Um einen von ihm geforderten jüdisch-palästinensischen, binationalen und föderativen Staat aufbauen zu können, müsse »die Nakba« als »ein untrennbarer Teil der Geschichte des Holocaust« verstanden und beide vergessen werden, so Boehms Versuch einer Holocaustrelativierung und -verdrängung.

Laut der Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler gebe es zwar »für Antisemitismus bei den Wiener Festwochen keinen Platz«, aber man wolle dem Intendanten Milo Rau bei der Kuratierung und Programmierung keine Vorschriften machen. Und wenn dieser sich, wie in solchen Fällen seit Jahrhunderten üblich und beliebt, eines jüdischen Kronzeugen bedient, scheint es für die Verantwortlich überhaupt schwierig dagegenzuhalten.

Seltsame Seilschaften

Beim Postkolonialismus, dessen Narrative jemand wie Boehm mit seinem spezifischen Rekurs auf das koloniale bzw. anti- oder postkoloniale Erbe Frankreichs bedient, auch wenn der sich als universalistischer Kantianer verstehende Philosoph selbst nicht der Theorieströmung zurechnen würde, handelt es sich im Wesentlichen um eine nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus bei großen Teilen der Linken in Mode gekommene Schöpfung, der gemäß Jahrzehnten nach dem Ende des Kolonialismus die Welt manichäisch in zwei Teile eingeteilt wird, wobei der »weiße« Norden den als »schwarz« verstandenen »globalen Süden« ausbeute.

Israel wird, obwohl mehr als die Hälfte seiner Einwohner orientalische Juden sind, die aus arabischen Ländern in den jüdischen Staat geflüchtet sind, dem »weißen« Norden und dem »(Siedler-)Kolonialismus« zugerechnet. Dazu versuchen postkoloniale Theoretiker, ähnlich wie Boehm, Israel vom Holocaust zu trennen und vielmehr selbst als einen genozidalen Akteur darzustellen, was sie wiederum – nur scheinbar paradox – an die Seiten europäischer Rechter und Rechtsextremer bringt, die ebenfalls die Judenvernichtung loswerden wollen, weil sie ihren politischen Intentionen im Weg steht.

Während deutsche AfD-Politiker den Nationalsozialismus und damit auch die Judenvernichtung als »Vogelschiss« in der deutschen Geschichte bezeichnen, schreibt die sich als antirassistische Kämpferin gegen Islamophobie und Neokolonialismus bezeichnende franko-algerische Politaktivistin und Sprecherin der Parti des Indigènes de la République (PIR) in ihrem Buch Whites, Jews and Us: »Für den Süden ist die Shoah nichts weiter als ein kleines Detail.« Der Holocaust sei demnach eine eher unwesentliche, innerweiße Auseinandersetzung gewesen, wogegen dem jüdischen Staat ein »Genozid« an den Palästinensern vorgeworfen wird, dem bloß aus rassistischen Gründen keine Bedeutung zugeschrieben werde – weil er keine »Weißen« getroffen habe.

Hier ergibt sich eine weitere, nur auf den ersten Blick paradox anmutende Überschneidung: Der als links auftretende Postkolonialismus geht in diesem Fall gut mit dem klerikal-faschistischen Islamismus zusammen: Antisemitismus und die Entrechtung der Frauen sowie religiöser und sexueller Minderheiten werden nicht kritisiert, da einen das in das Lager des »weißen« Imperialismus bringe, der dem »globalen Süden« Vorschriften machen wolle, sondern als kulturelle Eigenart akzeptiert. Und der Terror der Hamas gilt laut Judith Butler als »Akt des bewaffneten Widerstands«; und damit quasi als – wenn auch vielleicht überzogenene – Notwehr gegen ›weißen Siedlerkolonialismus‹, ›rassistische Unterdrückung‹ und ›imperiale Fremdbestimmung‹.

Nur für Juden

Der britische Historiker Sebag Montefiore charakterisierte diese Denkform im November 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung:

»Das Narrativ der Entkolonialisierung hat die Israeli zu einer Masse entmenschlicht, sodass ansonsten rationale Menschen die Barbarei entschuldigen, leugnen oder gar unterstützen. Das Narrativ besagt, dass Israel eine ›imperialistisch-kolonialistische‹ Macht ist, Israeli ›Siedlerkolonialisten‹ sind und die Palästinenser das Recht haben, ihre Unterdrücker zu beseitigen. Was das bedeutet, haben wir am 7. Oktober alle gelernt. Israeli werden als ›weiß‹ oder ›weiß-angepasst‹ und Palästinenser als ›people of colour‹ dargestellt. …

Im Zentrum der Entkolonialisierungsideologie steht die Einstufung aller Israeli, historisch und gegenwärtig, als ›Kolonialisten‹. Dies ist schlichtweg falsch. Die meisten Israeli stammen von Menschen ab, die zwischen 1881 und 1949 in das Heilige Land eingewandert sind. Sie waren nicht völlig neu in der Region. Das jüdische Volk hat tausend Jahre lang jüdische Königreiche regiert und im Jerusalemer Tempel gebetet und war dann in den folgenden zweitausend Jahren in geringerer Zahl immer wieder dort präsent.

Mit anderen Worten: Die Juden sind im Heiligen Land beheimatet, und wenn man an die Rückkehr von Menschen im Exil in ihre Heimat glaubt, dann ist die Rückkehr der Juden genau das. Selbst diejenigen, die diese Geschichte leugnen oder sie als irrelevant für die heutige Zeit betrachten, müssen anerkennen, dass Israel heute die einzige Heimat von neun Millionen Israeli ist. Die meisten leben dort seit vier, fünf oder sogar sechs Generationen.«

Viele der Palästinenser sind selbst Einwanderer: Jassir Arafat, der gerne erzählte, in der Altstadt Jerusalems oder Gaza geboren worden zu sein, wurde eigentlich in Kairo geboren, sein Chefverhandler Erekat stammte aus einer saudi-arabischen Familie. Personen wie die US-Vizepräsidenten Kamala Harris oder die ehemalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen Nikki Haley und andere, deren Eltern oder Großeltern aus Indien, Westafrika oder Südamerika in die Vereinigten Staaten eingewandert sind, würde niemand als »Siedler« bezeichnen, schreibt Montefiore weiter:

»Doch israelische Familien, die seit einem Jahrhundert in Israel leben, werden als ›Siedlerkolonialisten‹ bezeichnet, die aus diesem Grund verstümmelt und gar ermordet werden dürfen. Und entgegen der Ansicht der Hamas-Apologeten rechtfertigt die ethnische Zugehörigkeit von Tätern oder Opfern niemals Gräueltaten. Es ist bestürzend, dass es oft selbsternannte ›Antirassisten‹ sind, die jetzt genau dieses Morden nach ethnischer Zugehörigkeit rechtfertigen, manchmal gar befürworten. Die Linken sind der Meinung, dass Migranten, die vor Verfolgung fliehen, willkommen geheißen und ihnen erlaubt werden sollte, sich anderswo ein Leben aufzubauen.«

Genau das fordert die Linke heute in Europa für Asylsuchende und Migranten. Doch wenn auch fast alle Vorfahren der heutigen Israelis vor Verfolgung geflohen sind, soll eben diese Forderung für sie selbst nicht gelten. Juden würden, ginge es nach den Postkolonialisten, wieder rechtlos werden und zu einer bestenfalls geduldeten Minderheit in einem nur auf dem Papier »binationalen und föderativen« Staat.

Omri Boehm würde solch ein Szenario natürlich weit von sich weisen. Dass er sich mit dem Antisemitismus der Hamas im Besonderen und mit dem im Nahen Osten allgemein weit verbreiteten Judenhass nicht auseinandersetzen möchte und ausschließlich von den Bewohnern des jüdischen Staates Zugeständnisse fordert, zeigt aber, dass auch er bereit ist, eine solche Entwicklung in Kauf zu nehmen.

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